SHARON HOLMES NOVEL


WHO KIDNAPPED SHERLOCK HOLMES?

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Samstag, der 21. April 1923, begann sonderbar, verlief merkwürdig und endete seltsam.
Es fing damit an, daß morgens viel mehr Millionäre aufwachten, als England an normalen Tagen vorzuweisen hatte.
Das heißt, es erhob sich (oder blieb zum Frühstück im Bett*) die übliche Anzahl von Millionären, von denen die meisten sicher sein konnten, es bis zum Abend zu bleiben; daneben die Angehörigen einer bestimmten Berufsgruppe, von denen einige schon Millionäre waren und sich der Rest berechtigte Hoffnungen machen durfte, es bis zum Abend zu werden; sowie eine übermäßig große Anzahl von Männern, die sich gegen jede Vernunft der irrwitzigen Hoffnung hingaben, es am späten Nachmittag zu sein.
Man spricht vom 'Kind im Manne', wenn man sagen will, daß Männer nie ganz erwachsen werden und auch die Besonnensten und Ernsthaftesten auf bestimmte Schlüsselreize völlig kindisch reagieren.
Ein unfehlbares Schlüsselereignis ist zum Beispiel die unschuldige Frage des Sohnes unterm Weihnachtsbaum:
"Hilfst du mir mal beim Zusammenbauen meiner neuen Rennbahn?"
Jeder, der als Kind eine Rennbahn / einen Tischkicker / eine Modelleisenbahn geschenkt bekommen hat und unerfahren genug war, diese Frage zu stellen, weiß, daß es von diesem Moment an im Schnitt drei Tage dauert, bis man sich wieder in die Nähe seines Geschenks wagen darf. Meistens gibt der gedankenverloren auf dem Bauch liegende, Runde um Runde drehende Vati seine Beute anfangs nur äußerst gereizt und für kurze Perioden frei.
Schlauere Kinder lassen ihn dann sofort gewinnen; so dürfen sie nämlich öfter mitspielen.

Normalerweise wird das 'Kind im Manne' vom Verstand bewacht und gemaßregelt wie von einem strengen Oberlehrer. Aber es gibt Momente, da tanzt dieser Oberlehrer johlend, lachend und Grimassen schneidend mit dem ausgelassenen Kind ums Pult. Normalerweise erliegen die Opfer dem Schlüsselreiz einzeln oder in ganz kleinen Gruppen (wenn z.B. noch Vatis Schwager und Bruder beim Zusammenbau der Rennbahn helfen).
Aber diesmal hatte es ganz England und besonders London und die umliegenden Regionen erwischt.
Nicht alle Männer waren betroffen, nur die Fußballfans und die Wettbegeisterten.

Na schön, also alle...

Am Samstag, den 21. April 1923 spielten die Tottenham Hotspurs gegen Arsenal London.
Die Derbies der beiden Londoner Clubs waren immer ein gut besuchter Höhepunkt der Fußballsaison. Leider spielten beide Vereine in diesem Jahr keine maßgebliche Rolle in der Premier League. Aber irgendein Hitzkopf (oder ein berechnender Buchmacher) hatte eine Kette von Ereignissen konstruiert, aus denen sich für beide Mannschaften die hauchdünne Chance, den überlegenen FC Liverpool einholen oder am Ende gar schlagen zu können, ableiten ließ.

Niemand konnte nach der Vorstellung, die beide Vereine in dieser Saison gegeben hatten, ernsthaft daran glauben, daß einer davon alle restlichen Spiele gewinnen und der souveräne FC Liverpool alle verlieren würde. Noch unwahrscheinlicher war, daß dieser so wundersam erblühte Londoner Club in keinem dieser Spiele mehr ein Gegentor kassieren würde und Liverpool keins mehr schoß. Das oder mindestens ein Spiel mit zweistelligem Torergebnis waren nämlich die Voraussetzung dafür, mit Liverpool im letzten Spiel gleichzuziehen und die Meisterschaft über das bessere Torverhältnis zu gewinnen.

Irgendwann anfang der Woche begann dieses wahnwitzige Rechenexempel durch Fabrikhallen, Büros, Banken und Pubs zu geistern. Jeder, der es von einem Kumpel oder Kollegen vorgerechnet bekam, winkte kopfschüttelnd ab, nur um es dann abends am Küchentisch nachzurechnen und am nächsten Tag dafür zu sorgen, daß die Schnapsidee weiter verbreitet wurde.
Am Donnerstag morgen erschien ein Interview in fast allen Tageszeitungen, in dem Arsenals Trainer behauptete, man werde Tottenham samstags zweistellig schlagen. Der Trainer der Hotspurs konterte Donnerstag abends per Radio mit der selben Drohung.
Am Freitag lag ganz London im Wettfieber, und es breitete sich wie ein Lauffeuer über England aus.


Das Spiel war natürlich ausverkauft.

So wurde beschlossen, an den Zug nach Cambridge, der King's Cross um 14Uhr50 verließ und auf seiner Fahrt in den Norden Tottenham passierte, sechs zusätzliche Waggons anzuhängen, um den Arbeitern, deren Schichten Samstags zwischen 12 und drei endeten, zusätzlich zur Subway eine Möglichkeit zu geben, rechtzeitig zum Anpfiff in White Hart Lane zu sein.

*als Millionär kann man sich das leisten


Den Zug 'voll besetzt' zu nennen, wäre wirklich eine Untertreibung. Er platzte aus allen Nähten.
In der 3. Klasse war nicht nur jeder Sitz- und Stehplatz belegt, sondern zum größten Teil auch der vorhandene Luftraum. Eng aneinander gepreßt kauerten die Fahrgäste, teilweise in zwei bis drei Lagen, auf den Holzbänken und hingen in Trauben von den Haltegriffen für stehende Passagiere. Aber auch, wer keinen Halt fand, konnte kaum umfallen. Ein Neben- oder Untermann, auf dem man lümmeln konnte, fand sich überall.
In der 2. Klasse saß man etwas befreiter, aber auch hier waren alle Abteile komplett belegt, und in den Gängen war kaum ein Durchkommen möglich.
In einem Waggon 1. Klasse wäre eine so rigorose Überbelegung des vorhandenen Raumes undenkbar gewesen, aber in diesem Vorortzug gab es keine 1. Klasse. Die Passagiere in der 2. und 3. hatten jedoch keineswegs vor, sich zu beschweren. Sie waren froh, an Bord zu sein.

Die Stimmung im Zug konnte trotz der drangvollen Enge nicht besser sein. Für einen Tag im späten April war das Wetter wunderbar warm und sonnig. Jeder wußte, daß keiner der beiden Clubs in der Lage war, den anderen zweistellig zu schlagen, jedem war klar, daß Liverpool dieses Jahr Meister werden würde. Aber alle hatten gewettet, und die Quoten waren traumhaft. Der Verstand mochte kopfschüttelnd und mit verschränkten Armen dastehen wie ein mißbilligender Vater in der Kinderzimmertür, aber im Kopf jedes der Fahrgäste hüpfte ein aufgeregtes Kind herum, daß sicher war, nach dem Spiel Millionär zu sein.
Dabei weigerten sich die hüpfenden Kinder, den jeweiligen Wetteinsatz mit der Quote 999 zu multiplizieren. Dann wäre nämlich in 99,99 % der Fälle herausgekommen, daß man mit 5 £ Einsatz auch bei einer Qote von 1:999 nicht Millionär werden konnte.
Aber im Grunde ging es auch gar nicht darum, und es kümmerte niemanden, daß das Geld todsicher in den Taschen der Buchmacher verschwand, von denen einige an diesem Samstag tatsächlich Millionäre wurden.

Die junge Nonne, die sich auf der Suche nach ihrem Abteil durch die Gänge der 2. Klasse kämpfte, schien nicht zu wissen, daß sie den Zug ab Tottenham fast für sich allein haben würde.
Eine kleine Reisetasche fest an die Brust gepreßt, wand sie sich unter Verrenkungen und gemurmelten Entschuldigungen an den Männern und Jungen vorbei, die sofort ihre hitzige Debatte über das bevorstehende Spiel einstellten und sich so dünn wie möglich machten. Die junge Frau war angestrengt bemüht, möglichst wenig Körperkontakt mit den anderen Passagieren zu haben, und auch die Männer machten sich angesichts ihres Habits so dünn wie möglich. Gerade dieses ungelenke und verschämte Bemühen beider Seiten führte zu mehr Körperkontakt, als notwendig.
Mit dieser Nonnentracht ist es eine seltsame Sache. Die Nonne war die einzige Frau in einem Eisenbahnwaggon voller aufgekratzter Männer, die sich angesichts ihres bevorstehenden Wettgewinns fühlten, als könnten sie Bäume ausreißen. Normalerweise löst diese Konstellation einen Schlüsselreiz ähnlich dem der Rennbahn aus (nur ist diesmal nicht das Kind, sondern der Affe im Manne ange-sprochen).
Aber die schwarze Kleidung, das Kruzifix auf der Brust und die weiße Haube mit dem schwarzen Schleier waren eine wirksame Barriere.
Statt sich zu produzieren, zogen die Fahrgäste nur ihre Bäuche ein und wandten den Blick ab.

Dabei hätte ein aufmerksamer Beobachter mehrere Dinge feststellen können.
Die Nonne trug Make-up, aber nicht von der Art, die man anlegt, um hübscher auszusehen. Im
Gegenteil, sie hatte alles getan, um sich älter und häßlicher zu machen. Nicht wirklich häßlicher: sie hatte sich bemüht, sich unscheinbarer zu machen.


Ihre Wangen waren bedeckt mit einem weißlichen, grobkörnigen Puder, der die Gesichtshaut blaß und großporig erscheinen ließ. Wimpern und Augenbrauen waren graubraun gefärbt, um möglichst wenig Kontrast zu dem blaßen Gesicht zu bilden.
Hätte ihr jemand lange genug ins Gesicht gesehen, um diese Maskerade zu entdecken, hätte er außerdem feststellen müssen, daß sie viel zu jung war, um schon Nonne zu sein.
Aber der aufmerksamste Beobachter im Zug war die angebliche Nonne selbst.

Im Speisesaal ging es etwas ruhiger zu. Der Mittelgang war fast frei von stehenden Fahrgästen, um den beiden Kellnern Platz zum Servieren zu lassen. Aber natürlich waren alle Tische besetzt.
Ziemlich in der Mitte des Waggons saß ein Priester im Rang eines Monsignore zwei älteren, offensichtlich gut betuchten Damen gegenüber. In salbungsvollen Worten beschrieb er den bedauerlichen Verfall des ihm anvertrauten Gotteshauses. Sein nimmermüdes Streben, jeden Penny zusammenzukratzen, um den Schäflein wieder ein Dach über dem Kopf zu bieten, durch das es nicht hereinregnet, war von biblischem Ausmaß und wuchs von Minute zu Minute.
Als die Nonne den Tisch des fabulierenden Monsignore erreichte, kniete sie nieder und bat um seinen Segen, den er ihr jovial und ein bißchen sehr lässig erteilte.
Dann wandte er sich wieder den beiden Schreckschrauben zu, die im Banne seiner tränenrührenden Ausführungen drauf und dran waren, Schecks über beträchtliche Summen auszustellen.
Die Nonne erhob sich und setzte ihren Weg fort. Wieder hätte ein aufmerksamer Beobachter etwas seltsames feststellen können:
Als die junge Frau niederkniete, stellte sie ihre Tasche neben die des Monsignore, die mit der ihren nahezu identisch war und halb unter der Sitzbank lag. Als sie wieder aufstand, nahm sie nicht ihre, sondern seine Tasche auf.
Des weiteren hätte sich dieser Beobachter wundern können, warum der Priester plötzlich die zurück gebliebene Tasche neben sich auf die Bank hob, sie öffnete und, weiter auf die Spenderinnen in spe einredend, mit einem schrägen Blick den Inhalt inspizierte. Wäre der Beobachter nahe beim Tisch gestanden, hätte er Taschen- und Armbanduhren, einige Geldbörsen und jede Menge kleiner Geldscheine erspähen können.

In Tottenham leerte sich der Zug bis auf wenige Ausnahmen. Die Menge strömte in die Bahnhofshalle, und nicht wenige, die vor hatten, sich am Kiosk einen ersten Pint Bier zu genehmigen, durchwühlten in Panik ihre Taschen nach nicht mehr vorhandenem Geld. Andere, die sehen wollten, wie viel Zeit noch bis zum Anpfiff blieb, starrten verblüfft auf ihr nacktes Handgelenk oder das leere Ende einer billigen Uhrkette. Wer eine teure Uhrkette besessen hatte, konnte das Knopfloch bestaunen, an dem sie befestigt gewesen war.

Das Glück im Unglück der Bestohlenen war, daß keiner von ihnen nennenswerte Geldbeträge mit sich geführt hatte; was immer sie zur Verfügung gehabt hatten, hatte längst eine andere Art von Wege-lagerern eingesackt: die Buchmacher. Aber auch da hatte das Glück im Unglück zugeschlagen und den Blödsinn von der gewinnbaren Meisterschaft erst so spät im Monat verzapft, daß kaum jemand größere Summen setzen konnte.
Wer sich aber jetzt der idiotischen Hoffnung hingab, als ausgleichende Gerechtigkeit seine Wette gewinnen zu können, wurde bitter enttäuscht.
Am Ende des Spiels stand es 1:1, und das war das einzige Ergebnis, auf das wirklich niemand getippt hatte. Also gab es am Abend ein paar Millionäre mehr in England, allesamt Buchmacher von Beruf, und jede Menge Männer, die im Oberstübchen wütend die Tür zum Kinderzimmer zuwarfen und schworen, sie nie wieder zu öffnen.
Mit dem Pfiff des Schiedsrichters schloß sich die vermeintlich von der Fügung geöffnete Tür in die höheren Regionen des Geldadels, und damit endete für die Allgemeinheit auch die Merkwürdigkeit dieses Samstags.

Der nächste Halt des Zuges nach Cambridge war Holloway. Während sich in Tottenham die Fahrgäste wie ein Schwarm Heuschrecken auf die Bahnsteige ergossen hatten, entstiegen hier nur zwei Reisende: der Monsignore und die Nonne.
Sie verliessen den Zug nicht gemeinsam und sprachen nicht miteinander, als sie sich beim Betreten der Herren-, bzw. Damentoilette des kleinen Bahnhofs trafen.
Aber für sie, die maßgeblich dazu beigetragen hatten, daß vielen der verrückte Samstag in (unliebsamer) Erinnerung blieb, hielt der Tag noch einiges an Überraschungen bereit.


Kurze Zeit später verliessen beide die Toiletten sozusagen "in Zivil". Aus der blassen, unscheinbaren Nonne war eine modisch gekleidete, auffallend hübsche junge Frau von etwa 16 oder 17 Jahren geworden, deren kastanienrotes Haar nach der neuesten Mode kinnlang geschnitten, aber von einem tief in die Stirn gezogenen Hut fast völlig verdeckt war. Daß sie eine Taschendiebin von bemerkenswertem Geschick war, sah man ihr jetzt ebenso wenig an, wie im schwarzen Habit.
Der Monsignore aber sah in Zivil, obwohl elegant gekleidet, verdächtig nach einem Heiratsschwindler aus.
Die beiden verliessen den Bahnhof und machten sich zu Fuß auf den Weg zum Frauengefängnis Holloway.

"Wir hätten das nicht tun sollen.", stellte das Mädchen fest.
Der Gigolo sah geistesabwesend auf.
"Was nicht tun sollen?"
"Die Diebestour vorhin. Das waren fast alles arme Schlucker. Außerdem war es... nein, ist es extrem riskant."
"Riskant?", wiederholte der junge Mann.
Alice seufzte. Fast alle Gespräche mit Percy verliefen auf diese Art. Obwohl er beim Small Talk witzig und charmant war, sich endlos in feinsten Plaudereien ergehen konnte, war er geistig extrem langsam. Um Zeit zu gewinnen, konterte er stets mit Gegenfragen, die sich wie Echos anhörten.
"Wir gehen in letzter Zeit ständig ein zu hohes Risiko ein.", erklärte Alice gereizt.
"Ein zu hohes Risiko?", echote Percy prompt. "Was meinst du damit?"
"Na, zum Beispiel, daß wir regelmäßig bei unseren Fahrten hierher die selbe Nummer abziehen."
Alice wies auf das in der ferne aufragende, graue Gemäuer des Gefängnisses.Sie sprach hastig weiter, ehe das Echo erklang. "Irgendwann fragt sich vielleicht mal ein schlauer Polizist, wer in Holloway einsitzt und regelmäßig Besuch von professionellen Taschendieben bekommt."
"Jetzt hör aber auf!, rief Percy entrüstet. "Du hörst ja die Flöhe husten."
"Ganz genau.", bestätigte Alice. "Es ist riskant, ständig die selbe Verkleidung zu benutzen. Es ist riskant, eine Nonne zu spielen, wenn man erst sechzehn ist. Es ist riskant, immer wieder die selbe Route zu benutzen. Wir sollten auf die paar Pfund verzichten, die wir machen können, wenn wir hierher fahren. Die Strecken sollten immer per Zufall ausgewählt sein."
"Alles Quatsch.", konterte Percy. "Die Verkleidung ist perfekt. Selbst, wenn wir zwanzigmal die selbe Strecke machen, wird uns niemand verdächtigen. Nicht einen Mann Gottes und eine Braut Christi."
"Nicht gleich am Anfang.", gab seine junge Partnerin zu. "Aber heute zum Beispiel, mit all diesen Habenichtsen... ich mußte dermaßen viele beklauen, um einen einigermaßen vernünftigen Schnitt zu haben! Wenn jetzt plötzlich jede Menge Leute Anzeige erstatten und nach etwas Ungewöhnlichem gefragt werden... "
"An einem Priester und einer Nonne ist doch nichts Ungewöhnliches!", unterbrach Percy.
"An einer 16jährigen, älter geschminkten Nonne, die sich durch Waggons voller Fußballfans quetscht, findest du nichts Ungewöhnliches? Du kennst doch diese Polizeifragen: Erzählen sie uns alles, an was sie sich erinnern können, auch wenn sie nicht glauben, daß es mit dem Diebstahl im Zusammenhang steht... und plötzlich häufen sich die Hinweise auf eine Nonne. Irgendein Schlauberger bei Scotland Yard könnte den Zusammenhang sehen."
"Der müßte schon so um die Ecke denken, wie du!", erwiderte Percy entnervt. "Und selbst, wenn... am Ende bleibt nur der Talar in Erinnerung. An das Gesicht kann sich keiner erinnern. Deshalb ist die Verkleidung ja so genial."

Der Raum vor dem Schalter, an dem sie sich als Besucher registrieren lassen mußten, war leer. Da Holloway ein Frauengefängnis war, kamen an Samstagen normalerweise einige Ehemänner. Nicht allzu viele; die meisten Insassinnen hatten nicht gerade ein gesundes Verhältnis zur Institution der Ehe (manche saßen, weil sie ihre Ehe mit dem Hackebeil oder einer Portion Arsen im Kaffee für beendet erklärt hatten). Heute, am Tag des Spiels, am Tag der vermeintlichen Millionäre, war niemand da.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Beamte hinter dem Schalter einsah, daß sein pfeifender und rauschender Röhrenempfänger ihm keine Übertragung des Spiels liefern würde. Widerwillig setzte er die Kopfhörer ab und schlug ein schweres, staubgraues Buch auf. Dieser Vorgang eröffnete die Frage- und Antwortzeremonie, ohne deren Abhaltung ein weiteres Vordringen in die Gemäuer Holloways nicht möglich war.


Zunächst mußte Percy seinen Ausweis vorlegen. Obwohl der Mann alles, was er wissen wollte, von dem Dokument hätte ablesen können, begann jetzt die Zeremonie der seltsamen halben Fragen, vom Gefängnisbeamten mit gequält monotonem Geleier vorgetragen.
"Sie heißen?"
"Percy Adler."
"Geboren am?"
"28. Dezember 1898."
"In?"
"Newark, New Jersey, USA."
"Sie besuchen?"
"Irene Norton."
"...mit der sie verwandt sind als?"
"Enkel. Mrs. Norton ist meine Großmutter."

Dann legte Alice ihren Ausweis auf den Tresen. Und es begann auf ein Neues:
"Sie heißen?"
"Alice Norton."
"Geboren am?"
"18. Mai 1907."
"In?"
"Lausanne, Schweiz:"
"Sie besuchen?"
"Irene Norton."
"...mit der sie verwandt sind als?"
"Enkelin. Mrs. Norton ist meine Großmutter."

Die Antworten wurden sowohl auf einem Besucherausweis, als auch in dem staubgrauen Buch festgehalten. Es war dieses Buch, das Alice Sorgen machte.

Sie fand ihre Kette der Beweisführung durchaus logisch. Ihre Großmutter saß seit zwei Jahren (keineswegs unschuldig) wegen eines Betrugsdelikts hier in Holloway. So lange sie sich in Freiheit befunden hatte, hatte sie die Aktivitäten der Familie Adler/Norton bestimmt. Seit sie einsaß, glaubte Percy, den Boß der Miniatur - Gang spielen zu müssen. Seitdem hatte er sich aber nichts anderes als die Diebestouren in fahrenden Zügen einfallen lassen. Dabei hatte er schon immer den Pfarrer gespielt.

Es lief immer gleich ab. Den ersten Diebstahl begingen sie noch auf dem Bahnsteig, sie brauchten ja Fahrkarten, und welche zu kaufen, hätte die Touren unrentabel gemacht. Dann machte sich Monsignore Percy mit seiner Geschichte von der baufälligen Kirche an vielversprechende Opfer heran, während Alice 'auf Tour' ging. Dabei legte sie im Zug beträchtliche Strecken zurück, wechselte manchmal die Kleidung, oft Hüte und Perücken, bestahl nie zwei Opfer im selben Waggon, und lieferte in regelmäßigen Abständen die Beute bei Percy ab. Es war wirklich ein ziemlich sicheres Geschäft gewesen, solange Alice jünger war. Niemand brachte ein junges Mädchen oder einen Pfarrer in Zusammenhang mit dem Verlust seiner Brieftasche. Die Probleme hatten angefangen, als Alice begann, sich vom Mädchen zur Frau zu wandeln. Sie zog die Blicke auf sich. Aus einer spindeldürren, verzweifelten 12jährigen, deren Gesichtszüge an einen sommersprossigen Frosch erinnerten, war eine außergewöhnlich schöne junge Frau geworden. Das war das Erbe ihrer Großmutter Irene, die auch jetzt noch, im Alter von 64 Jahren, Männer dazu brachte, ihr hinterher zu starren, bis die Halswirbel knackten (oder gebracht hätte, wenn sie mehr Männer als nur der Gefängnispfarrer und der Direktor zu Gesicht bekommen hätten).
Auch Percy hatte eine gehörige Portion der Adler'schen Schönheit abbekommen, aber aus irgendeinem Grund wirkte sie an ihm immer ein wenig unecht. Alice war zu dem Schluß gekommen, daß Percy aussah, wie die Helden auf den Umschlägen kitschiger Liebesromane. Die waren so schön, daß man sofort wußte, daß alles nur billiger Betrug war.

Als auch Percy klar wurde, daß Alice's Schönheit die Diebestouren gefährdete, kam er auf den Dreh mit der Nonnentracht. Aber auch hier erwies sich ihr Aussehen als Handicap. Ohne die weißliche Schminke, die sie so blaß und verhärmt aussehen ließ, glaubte man ihr die Nonne einfach nicht. Sie sah künstlich aus, wie eine Schauspielerin, die eine Nonne darstellt. Aber kein Theaterdirektor hätte sie für die Rolle einer Nonne besetzt, wäre sie ungeschminkt zum Vorsprechen gekommen.


Alice glaubte, daß Percy das Risiko nicht richtig einschätzte. Bisher hatte das Nonnengewand zuverlässig als Barriere gewirkt, in soweit hatte er schon recht. Aber irgendwann, eines gar nicht so fernen Tages, würden sie auf jemanden treffen, der nicht den Blick abwandte und Entschuldigungen murmelte.

Einmal im Monat besuchten Alice und ihr Cousin Percy ihre Großmutter. Es mußte inzwischen eine beträchtliche Menge an Anzeigen wegen der Diebstähle vorliegen. Wenn der bearbeitende Beamte genug Sorgfalt aufwandte, um in den Zugplänen nach einem Muster zu suchen, konnte er nur eines finden: die Fahrt London - Cambridge am frühen Nachmittag des jeweils zweiten Samstags im Monat und die Rückfahrt am Abend des selben Tages.
Daß die Ermittler schnell die Verbindung zwischen den Taschendiebstählen und dem Frauengefängnis, daß an der Cambridge - Strecke lag, herstellen würden, war für Alice selbstverständlich. Dann brauchten sie nur jemanden hier heraus zu schicken, die Besucherlisten durchzugehen und an den entsprechen-den Samstagen immer wieder den Namen Percy Adler zu finden, der bereits aktenkundig war.
Aber Percy glaubte, daß sie Gespenster sah. Nach Alice's Ansicht hatte er weder genug Vorstellungs-kraft, die Kette von Schlußfolgerungen zu bilden, die der Polizei auf ihre Spur helfen würde, noch reichte es, sich eine andere Strategie einfallen zu lassen.


- to be continued -