FANTASMANIA NOVEL


FANTASMANIA
Ein Mittsommernachtstrauma

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Der Regen hüllte den Wald in graue Schleier. Es war, als wollte er die Farbe aus der Welt waschen.
Die schroff aufragenden Felsnadeln, die knorrigen Bäume, ihre verschlungenen Wurzeln, das von Kletterpflanzen durchzogene Laubwerk verschwammen in nassem Grau.
Aus allen Himmelsrichtungen schienen sich immer neue Wolkenberge heranzuwälzen, um ihre Wasserlast genau über diesem Flecken Fantasmaniens abzuladen.

Mingo Mystelzweig saß ziemlich ungemütlich unter einer krummen Eichenwurzel, die immer wieder versuchte, ihn wegzuschubsen. Über den Kopf hielt er sich ein großes Huflattichblatt, von dem Regenwasser in dünnen Bächen triefte. Bei jeder unvorsichtigen Bewegung durchnäßten ihn die kleinen Sturzbäche an anderen Stellen. Es war eigentlich sinnlos, den provisorischen Regenschirm immer noch hochzuhalten , aber Mingo bemerkte es gar nicht.

Er war niedergeschlagen. Aber es war nicht das schlechte Wetter, das Mingo bedrückte.
Obwohl er glaubte, den verzauberten Wald gründlich abgesucht zu haben, hatte er den Turm des Zauberers nicht finden können. Die meisten Wesen, die er gefragt hatte, hatten sowieso behauptet, daß es überhaupt keine Zauberer mehr gebe. Einige hatten gesagt, es gäbe noch einen, und ihn jedesmal in eine andere Richtung geschickt. Die wenigen übereinstimmenden Ratgeber hatten Mingo in diese Gegend gelotst. Aber vom Turm des angeblich letzten Zauberers konnte er keine Spur entdecken.
Er hatte nichts mehr zu essen und kein Geld, aber das störte nicht weiter, weil im Zauberwald sowieso niemand mit Geld bezahlte. Die meisten Bewohner des Waldes trieben Tauschhandel. Manche (die Großen, Bösen) nahmen sich, was sie wollten und lebten von Erpressung und Wegelagerei. Wie durch ein Wunder hatte er auf seiner Wanderung keinen von ihnen getroffen.
Daß er nie auf den Wegweiser zum Turm des Zauberers gestoßen war, war kein Wunder. Der Wegweiser lehnte zwei Eichen hinter Mingo an einem Baum und kicherte in sich hinein. Sobald Mingo Anstalten machte, aufzustehen, rannte der Wegweiser einen Baum weiter und versteckte sich.

Die Eichenwurzel schubste wieder. Mingo Mystelzweig rückte ein kleines Stück und wandte sich zu dem ungastlichen Baum um.
"Hör auf, zu schubsen!", rief er.
"Verschwinde!", zischte der Baum zurück.
"Ich denk gar nicht dran. Es regnet wie verrückt."
"Na und? Wenn dir das bißchen Regen nicht paßt, bist du hier im Wald sowieso falsch.", behauptete die Eiche. "Was willst du hier eigentlich? Du bist kein Wesen, das ich je zuvor gesehen habe."
"Ich bin ein Mensch. Ich suche den Turm des Zauberers."
"Ein Mensch? Nie gehört. Wenn du zum Turm willst, warum folgst du nicht dem Wegweiser?"
"Wegweiser?" Mingo schöpfte wieder Hoffnung. "Aber ich hab keinen gesehen."
"Natürlich nicht. Er versteckt sich. Warte mal..."

Es raschelte und knarrte über Mingo, und er bekam eine ordentliche Ladung Regenwasser ab, das von den Blättern fiel. Dann kam ein großer Ast zum Vorschein, der einen hölzernen Wegweiser am Ohr zu Mingo heranzog.

TUHRM des SAUBÄRERS
hir lang

stand auf dem Schild. Darunter war ein Pfeil gemalt, der alle fünf Sekunden zu flimmern begann, unscharf wurde und dann in eine andere Richtung zeigte.

"Aua!", plärrte der Wegweiser. "Laß mich, ich muß arbeiten!"


"Genau!", erwiderte die Eiche. "Dann tu deine Arbeit und zeig dem Jungen hier den Weg zum Turm. Er trampelt auf meinen Schößlingen ‘rum."
Der Wegweiser beäugte Mingo zweifelnd.
"Na gut.", meinte er schließlich. "Immer mir nach. Da geht's lang."

Mingo folgte dem Wegweiser und knallte mit der Nase gegen den Pfosten, der plötzlich stehen blieb.
"Oder wenn ich's mir recht überlege, da lang."
Sie schlugen einen Haken und marschierten, statt nach Westen, in südöstliche Richtung. Eine geschlagene Stunde und viele Haken und Kehrtwendungen später stand Mingo endlich vor dem Turm, der in gerader Linie keine sechzig Schritte von seinem Platz unter der Eiche entfernt gewesen wäre.

Hoch und immer höher schraubte sich das düstere Gemäuer. Nebelschwaden umwallten die uralten, moosüberwucherten Steine, die verwinkelten Zinnen und Wehrgänge. Mingo glaubte, durch die treibenden Schwaden Schwärme von Fledermäusen um die höchsten Turmspitzen flattern zu sehen. Er erschauderte in ehrfürchtigem Staunen.

Lange hielt diese Gemütsregung aber nicht. Das heißt, Mingo staunte schon noch, aber die Ehrfurcht verschwand ziemlich bald. Schließlich wunderte er sich nur noch, wie sich die baufälligen Schichten brüchiger Steine und vermoderter Balken in solche Höhen schrauben konnten, ohne unter dem strömenden Regen zu einem Haufen Matsch zu zerfließen.
Links und rechts der Tür lehnten sich eine Reihe schäbiger Anbauten an den Fuß des Turms. Darin häuften sich Stapel von Gegenständen, die andere Leute vor langer Zeit weggeworfen hatten, um dann vom Bewohner dieser Ruine wieder eingesammelt zu werden.
Etwa in halber Höhe des Turms öffnete sich eine Tür zu einem Balkon, von dem aus eine hölzerne Freitreppe weiter nach oben führte. Noch während Mingo hinauf spähte, löste sich eine der Stufen und fiel splitternd nach unten. Die Treppe endete an einem Wehrgang, der bei schönem Wetter offenbar als Sonnenterrasse benutzt wurde. Ein schmutziger Sonnenschirm mit einem Werbeaufdruck für Ambraxxa Solaire - Sonnencreme flatterte müde im Wind.

Mingo zögerte unentschlossen vor der massiven Holztür. Ein schimmeliges Pappschild sagte:

Hir wohnt
MAGRATHIL DER GROHSE, MECHTIGER MAGIER UN MENETEKEL FON MURXX
Fiesse abtretn!!

Er hatte die Faust erhoben, konnte sich aber nicht durchringen, zu klopfen. Das war einfach nicht, was er erwartet hatte.
Er hatte sich einen schwarzen, von Blitzen umtobten Wehrturm vorgestellt... eine unheimliche Höhle voller glitzernder Diamanten, bewacht von einem feuerspeienden Drachen... ein Schloß in einer Riesenmuschel auf dem Grund eines Sees... oder zumindest ein solides Knusperhäuschen.
Keine Ruine, die Besucher dadurch abwehrte, daß sie ihnen ein verfaultes Stück Holz oder einen losen Ziegel aufs Haupt fallen ließ.

Seit seiner frühesten Kindheit hatte er davon geträumt, ein großer und mächtiger Magier zu werden. Er war in einer schäbigen, wild wuchernden Barackensiedlung namens Kebab-2 außerhalb der Stadtmauern von Geneheran aufgewachsen. Geneheran gehörte zu einem unbedeutenden und langweiligen Reich namens Achdawarstan und lag unmittelbar an der Grenze zu Fantasmanien.
Kebab I war eine ähnliche Vorstadt auf der anderen Seite Geneherans. Mingos Vorstadt war nur deshalb interessant, weil seine Einwohner behaupteten, sie wären Geneheraner und damit Achdawarstanis, während ihre Siedlung aber eindeutig auf fantasmanischem Gebiet lag.
Allerdings hatte die Regierung von Fantasmanien, falls es überhaupt eine gab, sich nie in irgendeiner Weise für Mingos Siedlung interessiert. Genauso wenig wagten sich die Steuereintreiber von Geneheran in die verrufene Vorstadt. Die wilden Siedler gingen durch ein illegal in die Stadtmauer gebrochenes Tor in Geneheran zur Arbeit, falls sie dort welche fanden oder überhaupt suchten. Der Rest betrieb unangemeldete Flohmärkte, Wahrsagereien, Voodooläden und verrufene Spelunken.


Gleich hinter der Siedlung begann der wilde Wald Fantasmaniens. Auf der Suche nach Feuerholz hatten die Siedler zwei, drei Pfade in den Wald getreten, die sich bald im Unterholz verloren, aber niemand betrat sie freiwillig nach Einbruch der Dunkelheit.
Außerdem hatten die Pfade die Angewohnheit, sich nachts wieder zu schließen. Nicht völlig; dazu hätte es drei oder vier Tage gebraucht. Die ‘Zweier', wie sich die Bewohner von Kebab-2 selbst nannten, trampelten aber jeden Tag über die schmalen Wege. Allerdings gab es eine eindeutige Grenze, an der auch die, die sich getraut hätten, nicht weiterkamen. Es hieß, daß der Wald selbst jeden mit Dornen, Schlingpflanzen und sogar zusammenrückenden Bäumen aufhielt.
Die Kebab-Zweier behaupteten hartnäckig, daß sich noch nie ein Fantasmanier zu ihnen verirrt hätte, aber der hohe Anteil an irgendwie magisch begabten Mitbürgern, Hellsehern, Gauklern und jeder Sorte von Taschenspielern sagte etwas anderes. In Geneheran munkelte man sogar von Mischlingen, die sich niemals im Licht des Tages auf die Straße gewagt hätten.
Mingo wußte nur, daß es ein Elend war, als völlig unmagisches Kind in einer verdammt magischen Umgebung aufzuwachsen. Wenn die Vorstadtkinder mit Steinen auf Flaschen warfen, war er oft der einzige, der die Steine mit der Hand aufheben und schleudern mußte.
Die anderen bewegten die Geschosse mit der Kraft ihres Geistes oder kickten die Ziele mit kleinen Blitzen aus ihren Fingerspitzen um.
Die kleinen ‘Zweier' stahlen Obst und andere Dinge auf den Märkten, ohne jemals erwischt zu werden, manche von ihnen sogar, ohne in die Nähe des beklauten Marktstandes zu gehen. Mingo dagegen mußte um die Stände schleichen, bis die Gelegenheit, schäbige Beute zu machen, günstig schien, und wurde doch oft genug erwischt und durchgeprügelt.
Sein Ansehen in der Vorstadt war dementsprechend niedrig.

Und wenn es so aussah, als würden die Kinder für einen Moment vergessen, wie unbegabt Mingo war, und ihn teilhaben ließen an ihren Spielen, war Fizzbert zur Stelle, der sie sofort wieder erinnerte.
Fizzbert war der Sohn Fizzbone Fuzzlebucks, des ungekrönten Herrschers über Kebab-2.
Die schäbige Hütte, in der Mingo und seine Mutter wohnten und ihren Hexenkräuterladen betrieben, war eingequetscht zwischen Lugnum's Kneipe, die den übelsten Ruf des Viertels genoß, und den Rückgebäuden von Fuzzlebuck's riesigem Vergnügungspalast, der einen viel übleren Ruf verdient hätte, aber sogar von Touristengruppen besucht wurde. Lugnum's Kneipe und die Hütte der Mystelzweigs öffneten sich zu einer windigen, dunklen Gasse hin, die von Kebab's kurzer und als einziger beleuchteter Hauptstraße abging. Glitzernder Mittelpunkt dieser Hauptstraße war die Vorderfront von Fizzbone Fuzzlebuck's Palast.

Es gab keinen ersichtlichen Grund dafür, daß Fizzbert den etwa ein halbes Jahr jüngeren Mingo haßte wie die Pest. Er hatte alles, was Mingo fehlte: einen steinreichen Vater, so viele Freunde, wie man sich mit Geld und der Androhung roher Gewalt kaufen konnte, jede Art von Spielzeug, ausreichende Zauberkräfte und vor allem - massig Übergewicht.
Trotzdem wandte er viel Zeit und Mühe auf, Mingo aufzuspüren und zu piesacken.
Vielleicht lag es daran, daß sein Vater unbedingt das Grundstück haben wollte, auf dem die Mystelzweigs hausten. Sein erhabenes Lokal bot alles, was man sich erträumen konnte- nur keinen Hinterausgang in Kebabs verwinkeltes Gewirr von kleinen Gässchen. Gerade dorthin wären aber einige seiner Gäste gern verschwunden, wenn Geneherans Polizei durch den Vordereingang kam. Wegen dieser fehlenden Fluchtmöglichkeit weigerten sich viele Unterweltbosse, Fuzzlebucks Palast zu betreten. Das erschwerte seine Geschäfte mit ihnen.
Bisher hatte er es weder mit Geld noch mit Drohungen geschafft, die Mystelzweigs zu vertreiben. Gewalt hatte er bisher nicht angewandt; dazu fürchtete er sich wohl ein bißchen zu sehr vor Mama Mystelzweigs Hexenkräften.
Aber seine Drohungen wurden immer massiver. Seine Andeutung, die Hütte der Mystelzweigs könnte demnächst abbrennen, war allerdings lächerlich. Fuzzlebucks Rückgebäude standen Wand an Wand mit der Mystelzweig'schen Baracke. So etwas wie eine Feuerwehr gab es weit und breit nicht.
Aber in letzter Zeit lungerten oft ein paar stadtbekannte Schläger vor dem Kräuterladen herum. So lange sie die Gasse blockierten, wagte niemand, den Laden zu betreten. Das Geschäft ging immer schlechter.
Und Fizzbert rächte sich auf seine Weise an Mingo.


Eines Tages tauchte ein wandernder Händler in Mingos Straße auf, ein irrwitzig hohes Gestell auf dem Rücken schleppend, an dem allerlei seltsam geformte Töpfe und Pfannen schaukelten.
Er rief immer wieder laut, daß er magisches Kochzeug zu verkaufen hätte und außerdem Krankheiten heilen, Hochzeiten vermitteln und die Zukunft voraussagen könnte.
Niemand kam deswegen aus einer der schäbigen Hütten auf die Straße. Das war so ziemlich genau die Art von Geschäft, die sie selber alle betrieben. Aber die kleinen Banden schmutziger Straßenkinder versammelten sich johlend um den Fremdling. Wenn jetzt einer der angesehenen Geneheraner Bürger vorbeigekommen wäre*, hätte niemand mehr behaupten können, daß sich nie ein Fantasmanier in Kebab II blicken ließ.
* was tagsüber natürlich nicht der Fall war; die kamen erst nachts, wenn die Spelunken öffneten.
Dieser Händler war durch und durch eines der magischen Wesen Fantasmaniens.
Er war circa 2,40 groß, sehr dünn, mit einem bis zu den Knien reichenden Bart, einer unglaublichen Hakennase und glühenden Augen unter der Krempe eines hohen, spitz zulaufenden Hutes mit Sternen und Halbmonden darauf. In die Krempe des Hutes waren Löcher geschnitten, durch die seine imposanten Bockshörner paßten. In seinem Gürtel steckte ein krummes Holz mit spitzem, vom vielen Gebrauch verkohlten Ende: ein Zauberstab. Der Gehörnte war ein fahrender Zauberer.
Die Kinder beeindruckte das nicht. Sie umkreisten den Fremden schreiend und springend, zupften an seinem schäbigen Gewand und versuchten, Dinge von seinem Tragegestell zu stibitzen.

Dabei setzten sie auch ihre magischen Fähigkeiten ein, und bald schwebten einige Töpfe und Pfannen durch die Luft oder verschwanden einfach. Nach einiger Zeit wurde es dem Zauberhändler zu bunt. Er zückte seinen Stab und wirbelte ihn durch die Luft. Die rennenden Kinder blieben stehen, als wären sie gegen eine Mauer gelaufen. Er murmelte etwas in seinen Bart und bewegte den Stab hin und her. Die Kinder schwebten in kleinen Gruppen durch die Luft und landeten nach und nach auf einem großen Haufen. Als sie alle stumm und mit aufgerissenen Augen übereinander vor dem Zauberer lagen, meinte er, nicht unfreundlich:
"Würdet ihr bitte einfach mal die Schnauze halten? Ich versuche hier, Geschäfte zu machen."
Die Kinder nickten ängstlich und respektvoll. Das war doch mehr Magie, als sie gewohnt waren.

In diesem Moment stürzten die Mütter aus den Hütten in die Gasse, Verwünschungen kreischend und ihre eigenen Zauberstäbe schwenkend. Manche hatten in der Aufregung auch ihre Kochlöffel genommen, von denen einige recht brauchbar funktionierten, andere aber einfach nur Feuer fingen. Einer spuckte sogar einen Schwall Nudelsuppe aus.
Der fremde Zauberer wehrte die schwachen Blitze mühelos ab und stieß seinen eigenen Zauberstab vehement nach oben. Ein in Mingos kindlichen Augen gewaltiger Blitz fuhr hoch in den verhangenen Himmel, teilte mit krachendem Donner die Wolkendecke und öffnete ein kleines, sonniges Leck, aus dem strahlender Sonnenschein auf den Topfhändler niederfuhr. Die versammelten Hausfrauen hielten sofort inne.
"Entschuldigen sie bitte, meine Damen.", wandte sich der Zauberer an sie. "Wenn wir uns alle beruhigen würden, könnte ich ihnen mein Sortiment zeigen."
Mütter und Kinder nickten wortlos. Die Lücke in den Wolken schloß sich, und die Vorstädter rückten näher. Der Fantasmanier erklärte die magischen Funktionen seiner Ware und verkaufte bald das eine oder andere Stück. Es war nicht allzuviel, weil er nur Bargeld annahm, und das war in Geneherans illegaler Vorstadt grundsätzlich Mangelware. Nach und nach verlief sich die Menge, und schließlich blieb der Zauberhändler allein zurück. Er verschnürte seine verbliebenen Töpfe und Pfannen wieder auf seinem Bündel, als ihm auffiel, daß er doch noch Gesellschaft hatte.
Mingo zuckte zusammen, als der Zauberer herumfuhr und ihn aus glühenden Augen anstarrte, aber er rannte nicht davon.
"Was ist, Junge?", wollte der Magier wissen. "Möchtest du etwas kaufen?"
Mingo schüttelte nur den Kopf. Er konnte nichts sagen, aber er ging mutig einige Schritte näher. Der unglaublich lange Mann faltete sich zusammen, bis er so vor Mingo hockte, daß sich ihre Gesichter in einem gesprächsfähigen Abstand zueinander befanden.
"Worum geht's?", fragte der Fremde, wesentlich freundlicher, als er sogar während seiner Verkaufsvorführung gewesen war.
"Ich... ich möchte auch...", stammelte Mingo.
"Ja? Was möchtest du auch? Einen Topf?", hakte der Zauberer nach.
"Ein Magier werden!", stieß Mingo hervor.


"Ich wüßte nicht, was dagegen sprechen sollte.", meinte der knieende Händler. "Es gibt hier mehr Magie, als ich vermutet hätte. In der Tat sieht es so aus, als wärt ihr alle sehr begabt."
"Alle, außer Mingo Mystelzweig!", kam plötzlich Fizzberts gehässige Stimme von der nächsten Straßenecke.
Mingo erstarrte. Der Händler sah auf.
"Mingo kann überhaupt nichts!", rief ein anderes Kind. "Er muß alles mit den Händen machen!"
"Der Junge ist eine Schande!", meldete sich Fuzzlebuck von einem Balkon seines Spielsalons. "Er ist so ungeschickt, er holt uns noch die Geneheraner Polizei auf den Hals!"
Nach und nach tauchten die vorstädtischen Kinder und Frauen wieder in der Gasse auf. Angefeuert von Fizzbert und Fizzbone, riefen sie durcheinander, was für ein Idiot Mingo war. Langsam schloß sich der Kreis wieder. Der Zauberer richtete sich zu seiner vollen Länge auf, und die Menge stoppte.
Mingos kleine, verhärmte Mutter stürzte durch den Ring der Vorstädter auf den freien Platz, ihren eigenen Zauberstab in der Hand.
Sie wirbelte herum und deutete damit auf die versammelten Nachbarn. Die fuhren zurück. Es war umso schlimmer für Mingo, daß seine Mama eine anerkannte und gefürchtete Hexe in der Gemeinde war.
"Laßt den Jungen in Ruhe!", fauchte sie. "Er wird es lernen, soviel ist sicher. Manche Talente entwickeln sich eben erst später."
Fuzzlebuck lachte. Die Nachbarn lachten. Mingo wollte im Boden versinken. Mehr als alles andere demütigte ihn, daß er sich nicht selbst verteidigen konnte, sondern seine Mama das für ihn erledigen mußte.
Plötzlich spürte er die Hand des fremden Zauberers auf seiner Schulter.
"Ich sagte bereits, daß ich auch die Zukunft vorhersagen kann.", warf der Magier ein. "Ich werde diesen Knaben prüfen, und wir werden sehen, ob er eine magische Zukunft hat, oder nicht."

Mingo sah, daß die Menge damit einverstanden war, aber seine Mutter nicht. Das war das allerschlimmste. Er war erst fünf, aber er verstand, daß sie diese Prüfung nicht wollte, weil sie nicht daran glaubte, daß irgend etwas magisches in ihm steckte.
Sie sagte aber nichts und ließ den Fantasmanier gewähren.
Der legte Mingo seine linke Hand auf die Stirn und sah ihn durchdringend an. Dann zog er abermals seinen Zauberstab aus dem Gürtel und bewegte ihn vor Mingos Gesicht hin und her.
Mingo verkrampfte sich in Erwartung eines Blitzes, der ihm jeden Moment aus der Spitze des Stabes in die Nase fahren würde. Statt dessen tippte der Zauberer kurz mit dem hinteren Ende des Stabes an Mingos Stirn, und der Blitz fuhr in umgekehrter Richtung knapp an der Hakennase des Fremden vorbei in dessen Stirn.
Er schüttelte sich und gab Mingo mit einem sanften Schubs frei. Beide taumelten ein paar Schritte voneinander weg.
Die Menge rückte ein kleines Stück näher. Mingos Mutter sah weg. Mingo sah verzweifelt zu dem Zauberer hin. Der schüttelte sich erneut und sah völlig verwirrt in die Runde. Dann sagte er bedächtig:
"Es steckt nicht der kleinste Funke Magie in dem Jungen."
Die Menge kreischte triumphierend. Mingos Mutter ließ ihren Zauberstab sinken. Mingo wollte einfach nur verschwunden sein.
"Hab ich's nicht gesagt?", krähte Fuzzlebuck vom Balkon.
Doch der Zauberer fuhr fort.
"Aber ich habe etwas gesehen!", rief er mit donnernder Stimme. Die Menge wich zurück. "Dieser Junge wird der größte Magier aller Zeiten werden, und er wird unsere Welt retten!"
Niemand bewegte sich, keiner sagte ein Wort.

Wind kam auf, wirbelte Laub und Müll in die Gasse. Blitze zuckten ohne Vorwarnung über den Himmel. Dann begann es heftig zu regnen. Es dauerte keine zwei Minuten, bis der Regen die versammelte Menge von der Straße gewaschen hatte. Mingo suchte mit zusammengekniffenen Augen den Zauberer, konnte ihn aber nirgends entdecken. Dann packte ihn seine Mama am Kragen und bugsierte ihn in den Laden.

Mingo vergaß diesen Tag niemals. Eine Zeit lang hänselte ihn niemand mehr wegen seiner mangelnden Magie. Seine Mama glaubte wieder an ihn.


Aber er wurde älter, und es stellten sich im Laufe der Jahre keinerlei magische Fähigkeiten ein. Da niemand in Kebab über irgendetwas Buch führte und es auch nicht üblich war, Geburtstage zu feiern, vermutete Mingo nur ungefähr, daß er inzwischen 16 oder 17 Jahre alt war.
Er kam immer mehr zu der Überzeugung, daß der dürre fantasmanische Magier mit den Bockshörnern ihn damals mit seiner aberwitzigen Prophezeiung nur aus reiner Gefälligkeit aus der peinlichsten Situation seines Lebens gerettet hatte.
Fuzzlebucks Versuche, an das Grundstück der Mystelzweigs zu gelangen, wurden immer massiver.
Irgendwann war Fizzbert wieder zur Stelle. Anfangs zögerlich, dann immer heftiger, kehrte er zu seiner Gewohnheit zurück, Mingo zu piesacken und bloßzustellen, wo er nur konnte.
Schließlich ging er so weit, Mingo die Benutzung der Waldpfade zu verbieten. Das war das schlimmste, was er tun konnte. Der Laden war darauf angewiesen, daß Mingo täglich draußen auf den Pfaden war und den Waldrand nach Kräutern absuchte, während seine Mutter die wenigen Kunden empfing.

Mingo ging natürlich trotzdem in den Wald. Aber er wurde mehrmals von Fizzberts Bande abgefangen und in Schlägereien verwickelt. Dabei verlor er jedesmal seine gesamte Tagesernte durch irgendwelche gehäßigen Zaubersprüche, ganz abgesehen von den geprellten Rippen und geschwollenen Augen.

Mingo fing an, auf eigene Faust abseits der bekannten Pfade nach Kräutern zu suchen. Das war natürlich schwierig, weil der Waldrand rings um die Vorstadt völlig leergezupft war und der Wald jedes tiefere Eindringen verhinderte.
Aber ab und zu entdeckte Mingo etwas, das sich zu sammeln lohnte.
Mit der Zeit wurde er sogar immer besser. Er fand Wurzeln, Beeren, Pilze und Kräuter, die es entlang der Pfade längst nicht mehr gab. Der Kräuterladen blühte auf, als die Mystelzweigs plötzlich die seltensten Zauberzutaten im Angebot hatten.

Lange Zeit war Mingo gar nicht bewußt, daß er eine magische Gabe entwickelt hatte, die in Kebab-2 einzigartig war: er konnte den verzauberten Wald betreten.
Die Dinge, die er sammelte, waren in der Vorstadt so schwer zu bekommen, weil sie tief drinnen im Wald wuchsen, wohin die Bäume keinen anderen Kebaberaner vordringen ließ.
Er bemerkte lange Zeit nicht, das er sich auf seinen Sammeltouren jedesmal weiter in den Wald begab. Die Nase auf den Boden gerichtet wie ein Trüffelschwein, bekam er auch kaum mit, daß er zielsicher immer wieder zurückfand.
Er wanderte einfach los, machte irgendwo einen Schritt zwischen die Bäume und war in einer anderen Welt. Kein anderer Vorstädter hätte ihm folgen können.

Und dann war er auf den Pfad gestoßen.
Einen Augenblick hatte er gedacht, er hätte das Ende eines der Pfade erreicht, die von den Vorstädtern ausgetreten worden waren. Er dachte an Fizzbert und seine Bande und wollte sich gleich wieder aus dem Staub machen. Im nächsten Moment erkannte er seinen Irrtum. Dies war keiner der bekannten Holzsammlerpfade.
Er kroch kaum erkennbar unter ein paar Farnbüscheln hervor, wurde schnell breiter und führte als klar erkennbarer Weg zwischen den Bäumen nach Westen.
Wäre es ein Kebab - Weg gewesen, hätte er aber nach Osten weisen müssen. Dieser erstreckte sich in die andere Richtung: nach Fantasmanien.

Mingos Herz schlug bis zum Hals. Jetzt erst wurde ihm richtig bewußt, wie weit er sich in den verzauberten Wald gewagt hatte. Ihn beschlich eine vage Erinnerung, daß er das seit Monaten tat. Wie war das möglich? Fantasmanien hatte ihn eingelassen!
Dort wohnten die großen Zauberer und die anderen magischen Wesen, von denen er einige durch seinen Job in Lugnum's Kneipe kennengelernt hatte.
Sie waren keine üblen Typen. Obwohl sie jedesmal, wenn er in dem Hinterzimmer servierte, in dem sie mit Lugnum und anderen übel beleumundeten ‘Zweiern' zusammenhockten, verstummten und sich vielsagende "Halts Maul!" - Blicke zuwarfen, hatte ihm doch schon der eine oder andere ein Bier oder ein Stück Stachelbeerkuchen spendiert.


Aber Mingo interessierten nur die Zauberer. Der Weg war frei, und er würde jetzt sofort nach Fantasmanien gehen und sich bei einem von ihnen als Lehrling bewerben.
Er würde alles lernen, was er brauchte, um sich gegen Fizzbert zur Wehr zu setzen und Fuzzlebucks Attacken gegen den armseligen Besitz der Mystelzweigs für immer zu unterbinden.

Ohne jede Angst, aber auch, ohne nachzudenken*, folgte er dem Pfad, weiter, als er je vorgedrungen war.

Das war vor drei Tagen gewesen.
Und jetzt stand er hier, im Herzen Fantasmaniens, vor dem baufälligen Turm eines halben Analphabeten mit dem lächerlichen Namen Magrathil. Mingo, der nie eine Schule besucht hatte, fand 8 Schreibfehler** auf dem Türschild dieses angeblich letzten Magiers. Das war zu viel.

Er hatte sich schon halb abgewandt, als hinter ihm die Tür in den Angeln quietschte und etwas ihn am Kragen packte.
Er drehte sich wieder um, aber da war niemand. Das war unheimlich und schon eher so, wie Mingo sich den Empfang bei einem Zauberer vorgestellt hatte.


* Das merkte er, als er Hunger bekam und in seinem Beutel nur einen angebissenen Stechapfel und ein paar dürre Kräuter fand
** Er fand eigentlich nur 4. Ein paar andere übersah er, der Rest waren Fehler, die Mingo gemacht hätte.
Dann quäkte eine Stimme in Höhe von Mingos Gürtellinie:
"Nicht so schnell, mein Junge! Was ist dein Begehr?"
Mingo sah nach unten und entdeckte ein verhutzeltes Männchen in einem viel zu weiten, staubig grauen Umhang, dessen Vorderseite von einem langen Bart in etwa der selben Farbe verdeckt wurde. Unter der breiten Krempe eines Spitzhutes blinkten dicke Brillengläser über einer mächtigen roten Gurke, die Mingo erst auf den zweiten Blick als Nase identifizieren konnte. Das Hutzelmännchen zog eine kleine silberne Flasche aus seinem Mantel und nahm einen kräftigen Schluck.

Bei dem Zwerg konnte es sich nur um einen Gehilfen des Zauberers handeln.
"Ich... ich wollte zum Zauberer... " , stotterte Mingo. "Also... eigentlich.. wollte ich mich als... Lehrling bewerben, aber... "

Das wenige, was vom Gesicht des Männchens zu sehen war, lief genauso rot an wie die Nasengurke. Es verschluckte sich würgend und prustete eine Wolke von braunen Tröpfchen über Mingos spitze Schuhe. Es roch nach Schnapsbrennerei.
Als der Hutzelzwerg sich so weit beruhigt hatte, daß er wieder sprechen konnte, zischte er nur:
"Rein mit dir!"

Immer noch nach Luft ringend, packte er Mingo am Kittel und wuchtete ihn mit erstaunlicher Kraft in den düsteren Flur. Mingo strebte nach draußen, aber das Männchen knallte die Tür zu.
Dann riß es einen windschiefen Garderobenschrank auf und verschwand wühlend darin.
Mingo wollte die Gelegenheit zum Verduften nutzen, aber die Haustür hatte innen keine Klinke!
Er hatte sich erst halb durch das kleine Erkerfenster neben der Tür gequetscht, als ihn unbarmherzige Hutzelhände an seinen dünnen Beinen packten und wieder nach drinnen zogen.
Das Männchen stülpte Mingo gewaltsam einen spitzen blauen Hut mit großen gelben Sternen darauf über seinen widerspenstigen Rotschopf.

"Gratuliere!", quäkte der Spitzbart, wobei er noch einen kräftigen Schluck aus seiner Flasche nahm. "Du bist eingestellt!"
Er schob Mingo vor sich her die morsche Wendeltreppe hinauf. Sie gelangten in einen Raum, der mit Gerümpel überladen war. Unter anderem hing ein ausgestopftes Krokodil von der Decke, an dessen mächtigen Reißzähnen verschiedenfarbige Socken trockneten. Erst auf den zweiten Blick entpuppte sich der Raum als Küche.


Das Männchen nötigte Mingo auf einen wackligen Stuhl, kletterte auf einen anderen und begann dann, in einem schwarzen Kessel auf dem Herd zu rühren, der einen entsetzlichen Gestank verströmte.
Mingo vermutete, daß der runzlige Gehilfe in dem Kessel irgend einen Zaubertrank für den mächtigen Magrathil zubereiten sollte.
"Essen ist gleich fertig.", murmelte der Spitzbart. " Ich hoffe, du magst Restegulasch."
Mingo machte würgend einen verzweifelten Versuch, die Treppe zu erreichen, aber er stellte nach wenigen Schritten erstaunt fest, daß seine Füße wirkungslos durch die Luft ruderten.
Als er sich umschaute, sah er gerade noch, wie das Männchen mit einem krummen Stab in seiner Richtung durch die Luft wedelte.
Die Spitze des Stabes zog ein feines, schnell verblassendes Glitzern wie einen winzigen blauen Kometenschweif hinter sich her.

"Das ist nur die erste Aufregung.", meinte das Männchen und wandte sich wieder seinem Kochtopf zu. " Ging mir genauso, als ich damals den Posten hier übernahm."

Mingo schwebte langsam zu Boden.
"Du bist der Zauberer?", fragte er ungläubig. "Magrathil der Große, mächtiger Magier und Menetekel von, äh... Murxx?"
Das Männchen verneigte sich grinsend und wäre fast von seinem Stuhl gefallen.
"Mit Verlaub! Magrathil, mächtiger Magier und Menetekel von Murxx, Dompteur der Doofen Dämonen, Vorsitzender der Vereinigung der Verflucher!"
Mingo wollte etwas sagen, aber das Kerlchen quäkte weiter.
"Magrathil, Gralsmeister der grausamen günen Gruft, Hüter des Hohen Hutes von Hoch-Habakuk, Schlächter der Schleimechse von Schladming!"

In diesem Stil ging es ewig weiter. Mingo konnte nicht genau sagen, ob seine Schwindelgefühle von dem stinkenden Restegulasch kamen, oder von den nicht enden wollenden Tiraden des zwergenhaften Zauberers. Irgendwann drehten sich der überfüllte Raum, Magrathils rotnasiges Gesicht und die Teller mit ekligen Restegulaschresten wie wild um Mingos vernebeltes Gehirn.

Die Lichter auf diesem Karussell des Grauens wurden immer dunkler, und Mingo fiel in einen tiefen schwarzen Schacht, wobei er sich immer noch drehte. Verzerrt hörte er eine Stimme, die immer leiser wurde:
"Magrathil, Bewahrer des Bösen Blauen Belzebübchens, Heiler hunderttausend heulender Höllenhunde, Klabauter der Krakeelenden Koboldarmee! Magrathil, Präsident der paranormalen Panamesen..."

Dann traf ihn links und rechts eine schallende Ohrfeige, und jemand bearbeitete seine Magengrube mit schnellen Schlägen. Er versuchte schwach, sich zu wehren, aber der unsichtbare Gegner packte seine Ohren und donnerte seinen ohnehin dröhnenden Kopf gegen das Brett am oberen Ende des Bettes. Brett? Bett? Mingo konnte sich nicht erinnern, in ein Bett geklettert zu sein, aber wenn er in einem war, wollte er jetzt auf keinen Fall wieder raus.
"Aufwachen, Schlafmütze! Aufwachen, Schlafmütze! Aufwachen, Schlafmütze!" leierte eine monotone Stimme.
Als Mingo endlich ein verklebtes Auge aufbekam, sah er in das idiotische Gesicht eines großen Holzweckers, der seine Ohren gepackt hielt und in seiner Magengrube auf und ab sprang.
Mingo fegte den hölzernen Blödian mit einem Schwinger in die Ecke.
Er wollte sich gerade umdrehen und die Decke über den Kopf ziehen, als er aus dem Augenwinkel sah, daß der Wecker sich aufrappelte und mit der dumpfen Entschlossenheit der wahrlich Hirnlosen wieder auf das Bett zu marschierte. Dabei meinte er einfallsreich:
"Aufwachen, Schlafmütze! Aufwachen, Schlafmütze! Aufwachen, Schlafmütze!"
"Schon gut!", brüllte Mingo, was ihm gleich darauf leid tat, weil sein Gehirn, von den Schallwellen in Schwingung versetzt, mehrmals gegen die Schädeldecke knallte. Wenn der Zauberer ihm nicht was ins Essen getan hatte, konnte es sich nur um eine üble Fleischvergiftung handeln. Dagegen sprach aber, daß sein Magen von dem Tumult in seinem Kopf ganz ungerührt blieb.
Um den Wecker zu beruhigen, schwang er seine Füße von der Bettkante.


Als der sich tatsächlich verzog, blieb Mingo einfach so sitzen, ein zusammengesunkenes Häufchen Elend.

Die Tür wurde so wuchtig aufgestoßen, daß sie gegen die Wand knallte. Mingo hatte den Eindruck, daß die Erschütterung den ganzen baufälligen Turm schwanken ließ, aber das konnte auch ein Nachbeben in seinem Schädel gewesen sein. Er erwartete, den schwafelnden Magrathil zu sehen, aber statt dessen flog so etwas wie ein sehr großes, magisch irrlichterndes Insekt herein.

Als das vermeintliche Insekt direkt vor seiner Nase stoppte, sah Mingo, daß es sich um eine Elfe handelte.
Sie war recht hübsch und gut gebaut, sah man einmal von ihren großen, spitz zulaufenden Ohren, den glitzernden Libellenflügeln und der Tatsache ab, daß sie bequem auf Mingos Handfläche sitzen konnte. Erst, als Mingo seine Augen von ihren üppigen Formen lösen konnte, bemerkte er, daß sie einen knapp sitzenden weißen Kittel und ein weißes Häubchen mit rotem Kreuz trug.

"Guten Morgen!", flötete sie. "Ich bin die Sprechstundenelfe. Mein Name ist Myrabella. Wie ich sehe, hat Tick - Tock sie schon wachgekriegt. Können wir anfangen?"
"Anfangen?", stöhnte Mingo verständnislos. "Anfangen womit?"
"Mit der Behandlung der Patienten. Womit sonst?"
Jetzt war es an Myrabella, verständnislos zu klingen.
"Behandlung? Davon verstehe ich nichts.", murmelte Mingo abwesend. "Ich bin hier nur der Lehrling. ...jedenfalls so lange, bis ich einen Fluchtweg finde... Das ist Sache des Magiers."
"Natürlich." Myrabella zeigte auf etwas über Mingo. "Und der sind sie."

Mingo sah hoch, aber da war nichts. Er sah die Elfe wieder an, die immer noch auf die selbe Stelle deutete. Er versuchte es noch einmal ganz schnell, aber das tat seinem verkaterten Gehirn gar nicht gut. Er tastete mit den Händen und fühlte zerschlissenen Stoff. Natürlich. Der spitze blaue Hut mit den goldenen Sternen drauf. Eine üble Vorahnung beschlich ihn.
"Aber... wo ist Magrathil?", jammerte er.
"Der ist natürlich weg.", meinte Myrabella. "So eine Gelegenheit bekommt man als Magier nicht oft... er hat ihnen eine Nachricht in seinem... seinem... na ja, er nannte es jedenfalls das Arbeitszimmer... hinterlassen."

Der Wecker brachte eine Schüssel mit Wasser und eine Zahnbürste. Dabei krähte er fröhlich vor sich hin: "Zähneputzen, Stinkstiefel! Zähneputzen, Stinkstiefel! Zähneputzen, Stinkstiefel!"
Mingo tat, wie ihm geheißen und fühlte sich danach etwas besser. Er folgte Myrabella schlurfend durch das düstere Innere des Turms, das weitaus geräumiger war, als man von außen vermuten mochte.

Myrabella knallte eine weitere Tür mit einem gezielten Fußtritt auf und wartete dann im Schwebflug.
"Hier bitte, das Arbeitszimmer. Ich rufe den ersten Patienten auf, und sie kommen ins Sprechzimmer, wenn sie die Nachricht gelesen haben."
"Nein, warte!", stieß Mingo in Panik hervor. "Das ist alles ein Irrtum! Ich bin kein Magier, und heilen kann ich auch niemanden!"
"Sie haben den Hut. Sie sind der Magier.", sagte Myrabella in anschwellendem Alarmton So mochte eine Mutter klingen, die den widerspenstigen Kinderchen den glitschigen grünen Spinatbrei gleich mit dem Kochlöffelstiel durch die Kehle würgen wird.
"Aber der Hut sagt doch überhaupt nichts.", beharrte Mingo. "Es ist nur ein spitzer blauer Hut mit gelben Sternen drauf. Ich habe keinerlei Ausbildung."
"Ganz genau. Das sind heutzutage die exakten Voraussetzungen für die Stelle. Ein spitzer blauer Hut mit gelben Sternen drauf und keinerlei Ausbildung. Ich hole den ersten Patienten."
Ehe Mingo noch etwas sagen konnte, verschwand sie mit glitzernden Tragflächen.
Seufzend begab sich Mingo in Magrathils Arbeitszimmer, das ein noch wüsteres Durcheinander enthielt, als die Küche.
Mingo sah auf, neben und unter dem Schreibtisch nach, aber eine Nachricht konnte er nicht finden.
Alles was er fand, war ein uraltes Stück Käse, in das jemand ein krummes Stück Holz gerammt hatte.


Er versuchte, die Werkbank nach der Nachricht abzusuchen, aber in dem Kuddelmuddel aus Glaskolben und gewundenen Röhren, in denen grüne und rote Flüssigkeiten widerwärtig blubberten, aus sinnlosen mechanischen Holzapparaten, die von Ratten in kleinen Laufrädern angetrieben wurden und einer tollkühnen Konstruktion aus Legosteinen, an denen eine mit Nadeln gespickte Wachspuppe baumelte, gab es kein Fetzchen Papier.
Mingo wanderte weiter zu einem Regal und studierte die Buchrücken. Es handelte sich um schwere, schweinslederne Folianten mit so interessanten Titeln wie "Der HEXENHAMMER", "Folterwerkzeuge- im Nu selbst gebastelt!", "100 hochnotpeinliche Quizfragen, die keine Hexe beantworten kann", "Der kleine Exorzist", "Der kleine Exorzist II" und "Der kleine Exorzist auf dem Mars".

Etwas zischte:
"Psssst! Hier rüber!"
Mingo stutzte. Die Stimme kam offensichtlich aus dem Bücherregal. Er schob einige Bücher beiseite, um hinter sie zu sehen, aber da war nichts. Er schob ein weiteres Buch weg, einen richtig fetten, unhandlichen Wälzer, und hörte:
"He, nimm die Hand aus meinem Gesicht!"

Er fuhr zurück. Das Buch starrte ihn verärgert an.
"Ich will dir helfen, und du drückst mir die Nase platt!", grollte es.
"Das war keine Absicht. Ich wußte nicht, daß du... äh, lebendig bist."
"Natürlich bin ich das. Ich bin das Macrocosmopolitoneposemantopathologicomnipotenziaspiralono-micon. Ich bin das mächtigste existierende Zauberbuch Fantasmaniens,. was sage ich... der Welt!"

Mingo fürchtete, die selben selbstverliebten Prahlereien anhören zu müssen, wie von dem elenden Verräter Magrathil, aber zu seiner Erleichterung merkte das Buch gleich darauf an:
"Vergiß den Namen. Du kannst mich Mac nennen."
"Angenehm. Ich heiße Mingo. Mingo Mystelzweig. Ich wäre dir wirklich dankbar für deine Hilfe. Siehst du, ich habe nur diesen spitzen blauen Hut mit gelben Sternen drauf, aber keinerlei Ausbildung..."
"Ah, ein Magier!", unterbrach ihn das Buch wissend.
"Aber ein Hut macht doch keinen Magier aus mir!", heulte Mingo.
"Möchtest du lieber eine Schirmmütze?"
"Neiiin!", schrie Mingo. "Ich will hier raus! Ich hab mir das alles ganz anders vorgestellt!"
"Ja, das tun sie immer, die Depp... äh, Adepten der Magie. Sonst würde sich ja nie einer bewerben. Aber das ist doch alles kein Problem. Ich beinhalte alle Zaubersprüche der Welt. Gemeinsam werden wir das schon packen."
Neue Hoffnung keimte in Mingo.
"Du meinst, du zeigst mir zu jedem Fall den passenden Zauberspruch, wenn ich nicht mehr weiter weiß?", fragte er das Buch.
"Ja, klar.", antwortete es, als sei das die selbstverständlichste Sache von der Welt.

Mingo drehte sich um und riß die Tür auf. Seine frisch erwachte Begeisterung wäre ihm fast zum Verhängnis geworden. Er konnte sich gerade noch an der Tür festhalten. Ein paar kleinere Steine polterten in die Tiefe. Der Gang, durch den er mit Myrabella gekommen war, war verschwunden. Mingo sah einige Meter unter sich die Blätter der höchsten Baumkronen.
Er angelte vorsichtig nach der Klinke und zog die Tür zu. Dann sah er sich im Raum um, aber eine andere Tür konnte er nirgends entdecken.

Er machte die Tür vorsichtig wieder auf und fuhr zurück, als Myrabella direkt vor seiner Nase schwebte. Hinter ihr erstreckte sich der Gang.
"Eines hätte ich fast vergessen.", bemerkte Myrabella fast beiläufig. "Rasen sie nicht unbedacht durch irgendwelche Türen. Schauen sie, ob die Treppe an ihrem Platz ist, bevor sie drauftreten."

Sie beugte sich vertraulich zu Mingo und flüsterte:
"Seit hier alles drunter und drüber geht, hält sich der Turm für den besten Innenarchitekten aller Zeiten. Je nach Laune stellt er manchmal alles um, aber im Großen und Ganzen landet er am Schluß wieder beim alten Grundriß."


Sie klopfte an einen Stützbalken, der sich sofort um einige Zentimeter verschob. Eine kleine Staubwolke verpuffte, und Putzbrocken rieselten zu Boden. Myrabella zog vielsagend eine Augenbraue hoch.
"Wie sie sich vorstellen können, tut das der Bausubstanz nicht gerade gut... Der Turm ist so heruntergekommen wie das ganze Reich."
"Fantasmanien?", fragte Mingo verwundert. "Heruntergekommen? Was meinst du damit?"
"Haben sie die Nachricht gefunden?", fragte sie unvermittelt, statt zu antworten. "Können wir anfangen?"

Mingo hörte hinter sich einen dumpfen Aufprall. Als er sich umwandte, sah er, daß Mac mit dem unaussprechlichen Namen zu ihnen herüber schwebte.
"Wir können.", meinte er zuversichtlich.
Myrabella verzog bei Macs Anblick das Gesicht.
"Sie wollen sich von DEM helfen lassen?", fragte sie ungläubig. "Sie haben Magrathils Nachricht nicht gefunden."
Mingo schüttelte den Kopf.
"Da war keine Nachricht. Kein Brief, kein Zettel, nicht mal was mit Lippenstift auf den Schminkspiegel geschmiert..."
"Lassen sie mich mal sehen.", forderte Myrabella unwirsch und schoß über Mingos Schulter hinweg ins Zimmer.
"Hier ist sie doch!"
Sie deutete auf das Stück Holz im Käse.
Mingo kam widerwillig näher.
"Das soll eine Nachricht sein?"
"Das ist sein Zauberstab. Die Nachricht lautet: Zauberei ist Käse!", mischte sich Mac ein.
"Das ist die ganze Nachricht? Sehr hilfreich."
"Sei bloß froh, daß er sich so gewählt ausgedrückt hat!", meinte Mac. "Er hätte auch schreiben können: Zauberei ist Sch...."
"Das ist doch nicht die ganze Nachricht!", fuhr Myrabella die beiden ärgerlich an. "Ziehen sie den Zauberstab aus dem Käse!"

Mingo packte das abgegriffene, leicht geknickte Stück Holz und zog. Es kam mit einem schmatz-enden Geräusch frei. Zunächst geschah nichts, aber plötzlich wurde der Zauberstab in Mingos Hand lebendig und zuckte durch die Luft, Käsebröckchen verstreuend.
Als würde er mit Zauberkreide an eine unsichtbare Tafel schreiben, tauchten Buchstaben vor Mingos Augen auf, die mitten im Raum zu schweben schienen.

Mingo las:


Main liber, unforsichtiger junger Froint!

Du has mihr aine grose Froide bereidet. Ich hade schon gedacht, die Ablösunk wirde nimals nich komen. 308 Jare im Dinsd is eine lange Zaid.
Jez ainige Tibbs:
1. Benuhze den Zaubastab zunechst nur im Ibungsbunker im Kehler. Fersuche ain paa ainfache Triggs un bringe dich jedesmah soford hinder der Schutsmaur in Sicherhaid.
2. Nim kaine Grankenschaine der Fereinichten Troll- und Gnomenkassen an.
3. Wen jemant behaupded, verhächst worden zu sain und saine urspringlige Gestald tsurigg haben wil, ferlang Pabire oder einen Stambaum. Urspringlige Gestalden haben nemlich ire Tüggen. Manche pasen nich ins Zimer, anere baisen dir soford den Kopf ap.
Mer fellt mir auf die Schnele nich ain.

Ales Gude

Magrathil, Pensioner un sons nixs!


Mingo starrte nachdenklich auf die langsam verblassenden Worte.
"Das ist alles?", fragte er.
"Das ist alles.", bestätigte Mac.
"Das kann nicht alles sein!", meinte Myrabella.
Plötzlich zuckte der Stab noch einmal und spukte einige weitere, ziemlich krakelige Wörter aus:

P.S: Las dir beser nich fon ainen helfen, der sich MAC nent!

"Na bitte!", rief die Elfe triumphierend. "Wußt' ich's doch!"
"Warum nicht?", wollte Mingo wissen. Er wandte sich an das Buch. "Warum soll ich mir nicht von dir helfen lassen?"
Mac tänzelte nervös auf der Stelle.
"Ach, der ist bloß sauer, weil ich zehn mal mehr von Magie verstehe, als er. Und von Rechtschreibung übrigens auch... "
Myrabella schoß heran.
"Du weißt genau, was der Alte meinte! Du kannst dem neuen Magier nicht helfen, du machst alles nur schlimmer!"
"Das stimmt doch überhaupt nicht!", schnappte das Buch zurück. "Der Junge kennt keinen einzigen Zauberspruch. Ich habe tausende auf meinen Seiten verewigt!"
"Die sind völlig nutzlos, solange der Hausmeister sein Unwesen treibt!"
"Hausmeister?" Mingo spähte nervös über seine Schulter. "Welcher Hausmeister?"



- to be continued -